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Synästhesie – Wenn die Töne Farben haben

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Synästhesie – Wenn die Töne Farben haben
Sind Synästhetiker die Vorboten einer neuen Menschheitsgeneration mit leistungsstärkeren Gehirnen?

Der kleine Vladimir Nabokov hatte an seinen hölzernen Buchstaben-Klötzchen wenig Freude: „Die Farben von den Buchstaben sind falsch“, beschwerte sich der Sechsjährige, der später ein bekannter russischer Schriftsteller werden sollte. Seine Mutter verstand den Ärger ihres Sohnes: Die Farben der Holzbuchstaben stimmten einfach nicht mit jenen überein, die Vladimir vor seinem inneren Auge sah, wenn er einen bestimmten Buchstaben las oder hörte.

Nabokov und seine Mutter gehören zu einer Gruppe Menschen, die auf einen bestimmten Außenreiz nicht nur mit einer, sondern mit mehreren Empfindungen reagieren. Solche Synästhetiker (griechisch syn: zusammen und aisthesis: Wahrnehmung) „schmecken“ Farben, „sehen“ Töne, „fühlen“ Geschmacksnoten. Dabei erfahren sie die zusätzlichen Sinneseindrücke als ebenso real wie die durch einen Außenreiz ausgelösten Empfindungen. Der Ursache für dieses Phänomen ist derzeit Frank Baumgart am Institut für Neurobiologie in Magdeburg mit Hilfe eines Kernspintomographen auf der Spur: Dieses Gerät erstellt Bilder des Gehirns, auf denen stärker durchblutete – also aktive – Regionen farbig hervorgehoben werden. Hört ein Synästhetiker, der beim Klang eines Tones stets eine bestimmte Farbe sieht, diesen Ton, so wird nicht nur sein Hörzentrum in der Großhirnrinde aktiv, sondern ebenso das Sehzentrum – als habe er gleichzeitig eine farbige Fläche gesehen.

Die neuronale Erregung, die für den optischen Eindruck verantwortlich ist, entsteht jedoch nicht in den Sehsinneszellen im Auge, sondern im Gehirn selbst. „Bei Synästhetikern dringen Erregungen ins Bewußtsein, die bei anderen Menschen unterdrückt sind“, erklärt der Psychiater und Neurologe Prof. Hinderk Emrich von der Medizinischen Hochschule in Hannover das außergewöhnliche Phänomen. Seiner Theorie zufolge wird die Vernetzung zwischen Außenreiz und Empfindung bei den fünf Sinnen – Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten – erst im Laufe der ersten Lebensmonate konditioniert durch die Eindrücke aus der Umwelt und durch die Erfahrung, wie Mitmenschen auf die entsprechenden Reize reagieren.

Gestützt wird Emrichs These durch eine Studie des Psychologen Simon Baron-Cohen von der Universität Cambridge: Der Brite setzte Säuglinge akustischen Reizen aus und maß dabei deren Hirnströme in verschiedenen Gehirnbereichen. Bei jedem der kleinen Probanden stellte er nicht nur Aktivitäten im Hörzentrum, sondern auch im Sehzentrum fest. Das könnte bedeuten, daß Babys anfangs Sinnesreize undifferenziert erleben.

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Synästhesie scheint also eine angeborene Fähigkeit zu sein, die bei den meisten Menschen im Laufe des Lebens verlorengeht oder sich mehr oder weniger stark abschwächt. Bei einigen dringen diese neuronalen Erregungen jedoch zeitlebens stark ins Bewußtsein vor und können sogar ähnliche Phänomene wie bei einem LSD-Trip verursachen. Dabei brauchen Synästhetiker keine Drogen, und sie sind nicht psychisch krank. Inzwischen ist auch zweifelsfrei erwiesen, daß ihre Wahrnehmungen nicht das Produkt lebhafter Phantasie sind. Werden Synästhetiker nach Jahren unvermittelt wieder nach der Farbe eines Buchstabens oder dem Tastempfinden einer Geschmacksrichtung befragt, geben sie dieselben Antworten wie im ersten Versuch – die Eindrücke bleiben ein Leben lang unverändert.

Hätte diese Fähigkeit keinen Nutzen, wäre sie in der Menschheitsentwicklung wohl längst verlorengegangen. Doch welchen Vorteil hat die Synästhetikerin, vor deren innerem Auge beim Hören einer bestimmten Melodie stets goldene Bälle herabfallen und metallfarbene Wellen schwingen? Oder der Mann, der beim Lutschen eines Pfefferminzbonbons an den Fingerspitzen glasglatte Röhren fühlt?

Der amerikanische Neurologe Richard Cytowic – Pionier der Synästhesie-Forschung – weiß inzwischen, daß die meisten seiner Testpersonen sich überdurchschnittlich gut an Zahlen, Termine oder Wörter erinnern. „Er muß ,eins` gesagt haben, denn die Zahl war weiß“, half einer Frau beispielsweise ihr Farbenhören beim Erinnern einer Telefonnummer. Einem männlichen Farbenhörer fiel es hingegen schwer, sich auf den Inhalt einer Rede zu konzentrieren: Jedes Wort rief in seinem Hirn ein farbiges Feuerwerk hervor.

Für Cytowic ist Synästhesie ein Relikt aus grauer Urzeit, in der alle Menschen diese Gabe besessen hätten. Er ging in den achtziger Jahren noch von einem Synästhetiker unter 25000 bis 100000 Menschen aus. Emrich hingegen schätzt die Zahl auf einen unter 500 bis 1000 und sieht in den Synästhetikern die Avantgarde einer neuen Menschheitsgeneration, die mehr Wahrnehmungen gleichzeitig verarbeiten kann als die heutige. „Möglicherweise“, so spekuliert er, „sind die Synästhetiker Vorboten auf dem Weg zu ganz neuen geistigen Perspektiven.“

Beatrix Stoepel
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